es geht nicht um Flüchtlinge
Jetzt ist es so weit. Mir ist der Kragen geplatzt. Wochenlang habe ich zwischen Kopfschütteln, Ablenkung und Ernüchterung geschwankt. Aber als Schriftsteller kommt der Punkt, an dem man nicht mehr stillhalten kann. Dann muss man seine Gedanken aufschreiben, muss hoffen, dass man möglichst viele Leute erreicht und einige zum Nachdenken bewegt. Es gibt zu viel Schönes auf der Welt, als dass kein menschliches Wesen mehr da sein sollte, diese Wunder zu begreifen.
70 tote Flüchtlinge. Nicht irgendwo in Südeuropa, nicht auf einem Boot im Mittelmeer, sondern in einem Kühl-Lkw auf einer österreichischen Autobahn. Effektheischende Schlagzeilen in den Medien, Empörung und Entsetzen in der Bevölkerung, „So-geht-es-nicht-weiter-Statements“ aus der Politik. Alles nur scheinheilige Reaktionen und Floskeln. In ein paar Wochen ist die Sache vergessen. Die Flüchtlingskrise wird eine „Lösung“ finden, irgendwann, aber die kann weder menschlich sein, noch die wahre Ursache bekämpfen. Denn es geht nicht um Flüchtlinge. Doch, natürlich geht es um sie, sonst würde ich das hier nicht schreiben, aber sie sind nicht mehr als ein Symptom. Es geht um ein System, das versagt. Dieses System heißt Menschheit.
Für weitere Symptome braucht man nicht lange suchen: die unsichere Arbeitssituation und Überlastung des Gesundheitswesens; das steigende Verlangen nach Perfektion und Selbstbestätigung; Verarmung auf der einen, immer mehr Reiche auf der anderen Seite; die fortschreitende Naturzerstörung und Ausbeutung von Rohstoffen; ein Finanzsystem, das bar jeder Humanität agiert – die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Auf der Suche nach den Gründen für all diese Phänomene tauchen schnell mal Begriffe wie „Neoliberalismus“ oder „Globalisierung“ auf. Ich glaube aber, man muss weiter zurückgehen. Zum Anfang der Menschheit.
Der Mensch ist von Natur aus kein friedliches Wesen. Aggression hat wesentlich dazu beigetragen, dass er sich über alle Lebensformen – auch andere Homo-Arten – hinweggesetzt hat. Daneben war es sein Verstand, der ihn befähigt hat, Dinge zu bewältigen, die keinem Geschöpf vor ihm gelungen sind. Er hat sich die Erde untertan gemacht. Das geschieht, wenn Verstand und Aggression zusammentreffen. Aus der Aggression folgen auch drei Emotionen, die im Wesentlichen alle menschenunwürdigen Entwicklungen erklären können: Hass, Gier und Angst.
Dabei könnte der Mensch seine Aggression überwinden. Beispiele finden sich in allen Kulturen und Epochen, von Jesus Christus über Maria Theresia bis hin zum Dalai Lama. Der Dalai Lama hat erst kürzlich Möglichkeiten für eine Verbesserung der aktuellen Missstände aufgezeigt. Er fordert die Entwicklung einer säkularen Ethik über alle Glaubens- und persönlichen Grundsätze hinweg. Diese Ethik verlangt vor allem eins: Liebe. Aus ihr folgen Mitgefühl, Vertrauen, Hilfsbereitschaft und ein Zurückstellen der persönlichen, egoistischen Interessen. Es heißt nicht umsonst: Wer unfähig ist zu lieben, ist auch unfähig, glücklich zu sein.
Ich glaube, fehlende Liebe ist die Hauptursache für all die negativen Tendenzen auf unserer Welt. Diese Liebe ist universell zu verstehen, manifestiert sich nicht nur zwischen Liebenden, sondern auch im beruflichen und persönlichen Alltag, in der Freizeit, in beiläufigen Handlungen und im Denken. Wenn die Liebe, und nicht Aggression, unsere grundlegendste Emotion wäre und mit dem Verstand ein Bündnis einginge – dann, und davon bin ich überzeugt, gebe es keine Ungleichheit, keinen zerstörerischen Egoismus, keine Kriege, keinen Fanatismus – und keine Flüchtlingskrise.
Ich glaube nicht, dass in naher Zukunft Weltfrieden und das Glücklichsein aller Menschen möglich sind. Zu stark sind die destruktiven Kräfte, der tief verwurzelte Hass, die jahrhundertelangen, lieblosen Entwicklungen. Aber es kann ein Umdenken stattfinden. Eine Verwandlung, die in jeder Ebene ansetzt, vom Straßenarbeiter bis zum Wirtschaftsmagnat. Eine Verwandlung, die keine Lebensumstellung bedeuten muss, sondern nur immer ein bisschen mehr von dem verlangt, was jeder Mensch in sich trägt: die Liebe zum Leben und zu allem Sein.
Niemand kann die Welt allein verändern. Aber wir alle können unseren Beitrag leisten. Für ein Miteinander, statt Konkurrenzdenken. Für Vertrauen, statt Angst. Für Hilfsbereitschaft, statt Hass. Für eine Welt, in der Liebe und Hoffnung das Geschick der Welt bestimmen. Ich glaube daran. Ich glaube daran, weil wir keine andere Alternative haben, wollen wir als menschliche Spezies überleben. Denn als Spezies werden wir in jedem Fall fortbestehen. Aber ob wir dann noch menschlich sind, liegt allein an uns.